Genießen in Familie
Unsere Welt wird immer schneller und verändert sich in rasendem Tempo. Leider nicht immer zum Besseren. In den Tiefen unserer DNA sind wir Veränderungsmuffel: Seit dem ersten Höhlenfeuer ist es die menschliche Natur, nach Stabilität und Verlässlichkeit zu streben. Die Ruhe und die Sicherheit dem Risiko und der Hektik vorzuziehen. Allerdings wissen wir leider auch, dass es ganz ohne Veränderungen nicht geht. Zum Beispiel, weil wir sonst immer noch an diesem ersten Höhlenfeuer sitzen würden.
Und doch: Es gibt kaum etwas Schöneres, als einen Ort, der über Jahre und Jahrzehnte unverändert bleibt. Wo man einfach ankommen kann, ohne sich ständig auf neue Dinge einzustellen, wo man zuhause ist, wo alles selbst-verständlich ist. Das kann das seit Kindesbeinen vertraute Elternhaus sein, vielleicht aber auch ein etwas verschlafenes, schönes Dorf auf dem Land, wo im Straßenbild der letzten 40 Jahre allenfalls ein paar Misthaufen an der Straße verschwunden und ein paar Satellitenschüsseln auf den Dächern hinzu gekommen sind. Wo einem in der letzten Kurve vor dem Ortsschild schon ganz warm ums Herz wird. Kennt Ihr das auch?
Von einem solchen Ort möchte ich Euch heute erzählen. Denn dieser Ort kann auch ein Restaurant sein, das durch die Hände immer neuer Generationen der selben Familie geht und in dem sich über Jahrzehnte die Dinge nur ganz langsam und sehr unmerklich verändern. Frieden. Mein ganz persönliches Lieblingsrestaurant trägt dieses Wort schon im Namen: Das „Café de la Paix“!
Dieser Laden ist nicht im 64. Stock eines Glitzerturmes in Shanghai. Hier steht kein Sternekoch hinterm Herd und junge, gepiercte und seltsam angemalte Szenegänger mit der Kreditkarte von Pappi findet man auf der Gästeliste schon gar nicht. Die Speisekarte ist nicht vegan, der Kaffee nicht bio und die Rezepte stammen nicht von einem tibetanisch-skandinavischen Cross-Over-Team. Stattdessen bin ich hier einfach nur in einem guten Restaurant. Einem Restaurant, in dem schon mein Vater und mein Großvater zu Gast waren und wo auch heute meine Teenager-Nichten und Neffen mit am Tisch sitzen. Wir sind in Frankreich, in Grossbliederstroff, das vom deutschen Kleinblittersdorf nur durch die Saar getrennt ist, hinüber führt eine Fußgängerbrücke. Saarbrücken erreicht man in 10 Minuten. Aber da wollen wir jetzt gar nicht hin. Wir sind schließlich hier „beim Jespère“, so heißen die netten Menschen, die an der Ecke rue de la liberté/rue de Lixing seit 1966 zeigen, wie man Gäste glücklich macht.
Wo fange ich an? Beim Eingang. Der Haupteingang ist an der Hausfront, man steigt ein paar Stufen hinauf und steht dann sofort mitten im Lokal. Der eigentliche Haupteingang der Stammgäste ist aber der Hintereingang, neben der Theke, an der kurz vor der Essenszeit immer noch ein paar Einheimische im Stehen ihren Ricard oder ein bière-Picon trinken. Kam man herein, saß hier noch bis vor anderthalb Jahren die Grande Dame des Hauses, weit über 80, an einem kleinen Tisch, um die Stammgäste herzlich zu begrüßen. „Mimi“ haben wir sie alle liebevoll genannt, und sie war irgendwie unser aller Großmutter, über Generationen. Fehlte irgendwo Brot: Sie hat es sofort gesehen und schnell organisiert. Noch ein Edelzwicker? Eingeschweißte Frischetücher für die Gäste, die mit bloßen Händen lustvoll die Froschschenkel abnagen? Ging gar nicht. Sofort orderte sie Schälchen mit warmem Wasser und Zitronenscheiben, denn nur so kriegt man nach dem Froschessen die Finger wirklich sauber. Mimi hat uns leider verlassen. Aber das Café de la Paix ist eine Institution geblieben. Und war es immer. Über dem Restaurant ist ein alter Kinosaal, ein Tanzsaal. Kaum zu glauben, dass mein Vater schon 1940 hier herkam, um Groschenbier (kostete wirklich nur zehn Pfennig!) zu trinken und nächtelang wild zu tanzen.
Wir kommen immer Punkt zwölf. Niemals später. Wenn wir zur Tafel gehen, werfen wir einen Blick auf die hausgemachten Tartes und Kuchen, die für das Dessert schon vorbereitet sind. Wir reservieren oft schon zu Beginn Birnentarte und Blaubeerkuchen, als ob unser weiteres Leben davon abhinge und freuen uns bereits am Anfang auf den köstlichen Abschluss dieses herrlichen Essens, das oft erst am recht späten Nachmittag endet. Dann kommt irgendwann Vincent aus der Küche und zwinkert uns zu. Die nächste Generation im Café de la Paix hat übernommen, schon einige Jahre. Rotblond, witzig und Profi durch und durch. Er hat das Restaurant ganz behutsam und mit viel Liebe ein wenig modernisiert, aber dabei hohen Respekt vor der Tradition gezeigt. Die Leute lieben diese bodenständige, gepflegte und gastfreundliche Atmosphäre. Und so wird man an kaum einem Tag einen leeren Tisch finden, wir reservieren deshalb oft Wochen im Voraus. Umgeben ist man hier von einer fröhlichen Schar deutscher und französischer Schlemmer, die dieses gastronomische Juwel im Grenzgebiet ebenso schätzen. Mit den Jahren erkennt man sogar teilweise die Gesichter wieder und nickt sich freundlich zu, ein bisschen wie unter Verschwörern.
Wenn man die Karte aufklappt, findet man viele Klassiker der französischen bürgerlichen Küche und viel Regionales. Aber eigentlich klappt man die Karte nicht auf. Weil man nämlich schon Tage vorher über diesen Moment nachgedacht hat. Mein Schwesterherz liebt die Froschschenkel mindestens so wie ich, üppig in Butter, Petersilie und Knoblauch serviert. Der Kalbskopf mit Sauce Gribiche geht immer an meinen Cousin, mein Vater liebte das Kalbssteak mit Morcheln, meine Mutter schwört auf den Löwenzahnsalat mit Speck und meine Frau würde für die kleinen halb-und halb-Knödel, Schneebällchen genannt, auch zu Fuß aus Berlin kommen. Und vorher gibt es eine riesengroße Schüssel knackigen grünen Salat für alle!
Noch eine Flasche weißer Crozes Hermitage? Oder doch lieber Rosé. Zum Dessert stößt mein Kleincousin dazu, die Schule ist aus. Durch die Fenster scheint die Sonne herein, das ganze Lokal ist jetzt fröhliches Gemurmel, Schwelgen, Freude. Und wenn ich die Augen schließe, kann ich noch meinen Vater und seinen Bruder hören, wie sie zusammen lachten, am lautesten über ihre eigenen Witze. Augen auf, denn jetzt kommt die Tarte. Üppig mit einer dichten Sahne dekoriert, die aus flüssiger Crème Double aufgeschlagen wird. Für die würde nun ich zu Fuß aus Berlin kommen. Ich muss wieder die Augen schließen und denke daran, dass mein Onkel hier nicht etwa Kaffee zum Kuchen bestellte, sondern sich gerne einen kleinen Krug Pinot Blanc zur Birnentarte kommen ließ. Ich erinnere mich auch, wie er mir hier gleich an dem Tisch hinten rechts das Austernessen beigebracht hat, ganz so wie wir heute den Kindern. Gegenwart und Erinnerungen fließen zusammen in dieser genussvollen, fröhlichen Zeitkapsel. So tröpfelt der Nachmittag lustvoll langsam dahin. Und ist leider doch irgendwann zu Ende. Noch ein Kaffee. Mirabelle dazu?
Wenn man dann durch die Hintertür tritt und wieder draußen in der Welt ist, möchte man am liebsten sofort wieder zurück. Zurück an unseren runden Tisch, zu unserem nie endenden Gespräch und den gut gefüllten Gläsern. Wie schön wäre es, sich noch weitere Stunden den Jespères anzuvertrauen. Und in das Bedauern des Aufbruchs mischt sich schon jetzt die Vorfreude auf das nächste Mal. Zum Glück haben wir schon reserviert. Natürlich für Punkt zwölf und keine Sekunde später. À bientôt!
p.s.: Vor ein paar Jahren fuhr ich mit Frau Knauber direkt von hier zum Flughafen. Beim Start hatten wir plötzlich einen Triebwerksausfall durch Vogelschlag und verloren stark an Höhe. In diesem Moment dachte ich tatsächlich an das eben beendete Essen bei Jespère und war froh, meine Henkersmahlzeit dort und nirgends sonst erlebt zu haben. Ist zum Glück nochmal gut gegangen. Das Foto oben hat mein alter Freund Dirk Guldner gemacht, mit dem ich unbedingt mal wieder nach Grossbliederstroff muss. Und wer einen solchen Nachmittag einmal selber erleben möchte, der findet hier alles, was er braucht: https://kurzlink.de/nGVb42FN7
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