Wieviel Sternlein stehen
“Also, wir legen ja gar keinen Wert auf diese ganze Sterneküche, das ist doch alles total übertrieben”, sagt mein Gegenüber und schiebt seine Rolex “Submariner” zurecht. “120 Euro für ein Menü, das steht doch in keiner Relation”, fährt er kopfschüttelnd fort, während er mit der Fernbedienung des krachneuen Tesla spielt. Typisch deutsche Konversation über Sterne-Essen halt. In Frankreich läuft es anders. Dort diskutiert man im Kollegenkreis, ob nun der zweite Stern für das Restaurant in der Nachbarstadt noch lange zu halten sein wird oder wann man mal wieder zusammen zu diesem tollen Sterneladen in Lyon fährt. Letztens hatte ich mitten in Berlin ein zufälliges Gespräch mit einem jungen französischen Paar, das dann mit leuchtenden Augen und in allen Details alles über meinen einige Jahre zurückliegenden Besuch beim legendären Paul Bocuse wissen wollte. Man kann Geld auf verschiedene Weise ausgeben und sollte da tolerant sein. Allerdings kann ich mich auch noch nach Jahren an ein tolles Essen in einem besonderen Restaurant in guter Gesellschaft erinnern. Welche Uhr ich dabei getragen habe? Keine Ahnung. Entschieden lieber ist mir deshalb persönlich die französische Mentalität, wo große Küche eine hohe gesellschaftliche Wertschätzung erhält und Teil der kulturellen Identität ist. Wir in Deutschland diskutieren stattdessen lieber mit großer Verbissenheit über Leitkultur. Kriegen wir wohl nicht mehr raus.
Sterne regnet es jedes Jahr um diese Zeit, und damit meine ich jetzt nicht die Zimtsterne oder den Weihnachtsschmuck, den wir nun langsam wieder herausräumen. Es geht um die Michelin-Sterne, die alle Jahre wieder vergeben werden und dem geneigten Gourmet signalisieren sollen, wo man sehr gut, hervorragend oder gar spitzenmäßig isst. Es gibt auch andere Bewertungssysteme, aber die haben – ob nun zu Recht oder zu unrecht – allesamt nie die Strahlkraft der Sterne-Wertung von Michelin erreicht. Doch was sind diese Sterne eigentlich mehr als Anhaltspunkte? Nicht viel mehr, aber nach meiner Erfahrung meistens ziemlich präzise Anhaltspunkte. Zur Wahrheit über die Sterne gehört aber auch, dass manche, die schon seit Jahren einen verdient hätten, nie einen Stern bekommen. Andere dagegen setzen kompromisslos auf modische Trends wie vegan oder radikal regional und bekommen für diese oft klägliche Küche und oxidierten Naturwein sofort die begehrte Auszeichnung. Dies mag ein Zeichen dafür sein, dass auch Michelin auf der Suche nach zusätzlichem Publikum ist. Mein Fall ist es nicht.
Vorletzte Woche war es mal wieder so weit. Der deutsche Michelin 2018 kam heraus. Mein erster Blick gilt aus Heimatverbundenheit immer dem Saarland, wo schon seit Jahren zwei wundervolle Dreisterner und einige sehr gute Einsterner für eine Sternedichte sorgen, die im Verhältnis zur Größe des Landes in Deutschland ihresgleichen sucht. Dort konnten 2018 alle ihre Kategorie halten, und ich freue mich schon auf die nächsten Gelegenheiten, wieder persönliche Eindrücke zu sammeln. Mein zweiter Blick gilt dann stets Berlin, weil ich dort die meiste Zeit des Jahres verbringe. Hier hat sich in den letzten Jahren Unglaubliches getan. Nicht München, Hamburg oder Stuttgart sind in Deutschland bei den Sternen ganz, vorne, sondern Berlin! Junge Köche mit unkonventionellen Konzepten und teils weltläufiger Erfahrung haben an der Spree in den letzten Jahren eine spannende, inspirierende Küchenszene etabliert, wo bis vor ein paar Jahren mit Borchardts Schnitzel der Olymp der berlinischen Kulinarik fast schon erreicht war.
Mit Interesse stieß ich auf einen neuen Namen in der Berliner Liste und wurde neugierig. Das “Golvet” liegt zwischen Potsdamer Platz und Tiergarten. Das Gebäude, nun ja, es geht so, aber ist man oben in der 8. Etage angekommen, befindet man sich in einem weitläufigen Restaurant, das großstädtisch-cool und gediegen zugleich ist. Vom früher hier ansässigen 40 Seconds Club ist nichts geblieben als loungige Musik, die vielleicht etwas zu laut aus den Boxen kommt. Durch große Fenster schaut man auf die Skyline Berlins und blättert in der Speisekarte. Im Gespräch mit dem jungen Team spürt man den Stolz, dabei zu sein und die Begeisterung daran, auch den Gast zu begeistern. Der Ton ist lässig, der Maitre im Smoking ist hier Vergangenheit. Eine interessante Mischung aus Klassik und experimenteller Spielfreude kennzeichnet die Küche von Björn Swanson. Ein Stern fällt nicht einfach vom Himmel. Swanson ist Profi, war schon in vielen guten Küchen, und das merkt man. Stationen waren unter anderem das “Facil”, “Fischers Fritz” oder das “Alte Zollhaus”. Unterstützt wird er von Michael Schulz, der vor allem von seiner Zeit im “VAU” geprägt wurde. Den Stern haben sie nach einem halben Jahr quasi aus dem Stand erobert. Respekt.
Knackige Radieschen, köstliche Karamellbutter und vor Ort gebackenes Brot sind als Einstieg sehr verführerisch. Wir blättern weiter in der Speisekarte. Das fünfgängige Menü ist mit 105 Euro wirklich fair kalkuliert, wer mit kleinerem Budget unterwegs ist, kann hier auch mit 79 Euro und drei Gängen glücklich werden. Ich erwähne das, weil diese Preise angesichts der Kosten, die ein Sternerestaurant zwangsläufig hat, um die Personaldichte in Küche und Service und eine hohe Produktqualität bei zugleich kundenfreundlichem Wareneinsatz zu halten, wirklich extrem eng kalkuliert sein müssen.
An jenem Abend wurde gerade das neue Menü nach der Verleihung des Sterns gelauncht, also erwartete ich ehrlicherweise kleinere Pannen. Stattdessen viele Highlights: den Auftakt machte eine geräucherte Tranche vom Stör mit Wirsing und sauer eingelegten Kartoffeln, einem Spritzer Wodka und einem Klecks Kaviar. Räucheraromen, eine milde Säure und delikat salziger Kaviar harmonierten wunderbar. Ein Fest war der gebratene Kaisergranat, der mit Zitronengras, Butternut-Kürbis und einem köstlichen Krustentierfond daherkam, gefolgt von einer üppig portionierten Nantaiser Entenbrust, die uns butterzart begeisterte, auch aufgrund einer subtilen Essignote mit asiatischen Anklängen, die dann aber durch etwas Blaukraut und einen Hauch eines Knödelchens gewissermaßen wieder geerdet wurde. Der Geschmack wird hier bei fast jedem Gang mit hoher Perfektion ans Limit getrieben und bei jedem Teller freut man sich schon auf den nächsten. Die Weinkarte ist nach Geschmacksrichtungen sortiert, innerhalb derer Rot- und Weißweine, Rebsorten und Herkunftsregionen bunt gemischt sind. Nicht wirklich mein Fall, dennoch gelang es mir, einen vorzüglichen Chablis zu finden, der uns durch den Abend begleitete und auch zur Ente noch ausreichend Statur hatte.
Was soll ich sagen. Der anonyme Tester des Guide Michelin lag richtig: Das “Golvet” ist ein sehr sympathisches Restaurant mit einer wunderbaren, dezent experimentellen Küche, die ich gerade aufgrund ihrer klassisch-französischen Grundstruktur als sehr beruhigend empfinde. Beruhigend deshalb, weil hier nicht irgendein Marketing-Narrativ im Vordergrund steht, sondern wirklich ambitioniert und mit viel Erfahrung gekocht wird. Mögen aktuelle Trends von manchen beklatscht werden, ich werde immer wieder Restaurants wie das “Golvet” vorziehen und empfehle Euch, dort mal reinzuschauen. Und nehmt mindestens fünf Gänge. Die Rolex “Submariner” sollen sich andere kaufen. À bientôt!