Erinnerung an Monsieur Paul
Am 4. Mai 2008, einem Sonntag, wurde Bayern München zum 21. Mal Deutscher Meister, Barack Obama konnte sich bei den Vorwahlen zur US-Präsidentschaft auf der Pazifikinsel Guam mit sieben Stimmen Mehrheit gegen Hillary Clinton durchsetzen, und ich durfte bei Paul Bocuse essen. Dieser Tisch bei Monsieur Paul stand am Ende einer kleinen kulinarischen Reise, die ich seit vielen Jahren mit meinem alten Freund Jens um den ersten Mai herum unternehme. Auf diese Weise kann ich den unvermeidlichen Kreuzberger Straßenschlachten elegant aus dem Weg gehen, lerne jedes Mal eine neue Gegend kennen, und überall wartet mit der Frühlingsküche das Schönste auf uns, was an Europas Herden so zusammengekocht wird. Oft ist es ja so, dass sich sehr hohe Erwartungen, mit der Wirklichkeit konfrontiert, als überhöht erweisen und eine Enttäuschung geradezu herausfordern. Nicht so bei Bocuse. Dabei hatte er es nicht leicht: Zuvor waren wir bei der gefeierten Anne Sophie Pic in Valence, bei Régis Macron in der Auvergne und beim wackeren Michel Chabran in Pont de l’ Isère gewesen und hatten tagelang ein kulinarisches Feuerwerk ohnegleichen erlebt. Und nun Bocuse.
Durch einen glücklichen Zufall konnten wir über den Hotelconcierge einen kurzfristig frei gewordenen Tisch beim Meister ergattern. Da waren wir nun. Von der Butterdose bis zu den Tellern, überall prangte Bocuses Logo, die Speisekarte hatte etwa A3-Format mit Goldprägung, und die Atmosphäre war feierlich-gediegen. Die größte Überraschung bei diesem Essen war wohl, dass es keine Überraschung gab. Kein molekularer Firlefanz, keine Schäumchen, keine Show mit Stickstoff, Trockeneis oder Marshmallows mit Speckgeschmack. Stattdessen einfach nur gute, konsequente Küche mit starken regionalen Referenzen an Lyon und das Beaujolais. Ganz klassisch, und zwar mit Klasse, eine Küche wie ein kulinarisches Weltkulturerbe. Nach dem köstlichen Froschschenkelsüppchen mit Kresseknödel kam ein Rinderfilet Rossini mit Sauce Perigeux, das in meinem Kopf für alle Zeiten definiert hat, wie so etwas schmecken muss. Und zum Hauptgang erschien der Meister. Gemessenen Schrittes ging er von Tisch zu Tisch. Selfies gab es damals noch nicht, aber der neben Monsieur Paul herlaufende Kellner machte bereitwillig Fotos. Bei uns blieb er stehen, erkundigte sich sehr freundlich, ob wir zufrieden seien und plauderte ein wenig mit uns, während die Bilder gemacht wurden. Dann zog er weiter, nicht ohne uns noch einen schönen Abend zu wünschen. Das Dessert war ein Buffet, das um unseren Tisch herum aufgebaut wurde. Auch hier türmte sich Regionalität pur, von roten Früchten in Beaujolais bis Fromage blanc und Baba au rhum wurde nichts ausgelassen, was seit dem 19. Jahrhundert den Kanon klassischer französischer Desserts ausmacht. Das Geheimnis der Küche von Paul Bocuse war wohl, dass er keine Geheimnisse hatte, sondern ganz einfach das Beste aus den besten Produkten Frankreichs herauszuholen verstand. Und so wurde an diesem Abend jeder Teller zu einem köstlichen Statement.
Im großartigen Kochbuch des ‘Institut Paul Bocuse’ kann man nachlesen, wie diese Sauce Perigeux zustande kommt:
2 Schalotten, fein gewürfelt
40 g kleine Champignons, in feine Scheiben gehobelt
50 g Butter
100 ml Madeira oder Portwein
300 ml demi glace (konzentrierter, gelierter Kalbsfond)
20 g Trüffel, fein gehobelt
Die Hälfte der Butter in eine Kasserolle geben, darin Schalotten und Champignons anschwitzen, den Madeira angießen und auf ein Dreiviertel einköcheln lassen. Nun die demi glace hinzufügen und 15 Minuten simmern lassen, bis die Sauce sirupartig wird. Jetzt mit einem Schneebesen die übrige Butter hineinarbeiten, noch einen Schuss Madeira und die Trüffel zugeben und fünf Minuten bei 65 Grad ziehen lassen. Keine Zauberei, aber die samtigste, konzentrierteste und intensivste Trüffelsauce, die man sich vorstellen kann.
Paul Bocuse hat uns letzten Samstag verlassen. Dass der französische Innenminister dies bekannt gegeben hat und der Staatspräsident umgehend seine Trauer ausdrückte, zeigt, welchen Stellenwert das Essen in unserem schönen Nachbarland hat und wie wichtig Monsieur Paul dafür war. Der frühere Bundespräsident Walter Scheel hat einmal gesagt:”Lyon, das liegt bei Paul Bocuse.” Schöner kann man es nicht sagen. Im letzten Dezember hatte ich geplant, sehr bald mit Frau Knauber unsere oft verschobene Städtereise ins Lyonnais nachzuholen. Immer wieder war in den letzten Jahren etwas dazwischen gekommen. Ein gebrochener Fuß, zuviel Arbeit, ein ungünstiger Flugplan. Jetzt sollte es so weit sein. Den Tisch bei Monsieur Paul hatte ich fast schon gebucht. Dann haben wir die Reise doch noch einmal verschoben. Schade. À bientôt.
p.s. Am 3. Mai 2008 bin ich nachts im Hotel versehentlich auf meine Brille getreten. Nur falls sich jemand fragt, warum ich hier etwas mafiös zum Abendessen in einem geschlossenen Raum eine Sonnenbrille trage.