Der Wald, das Reh und Opa Thede
Ich bin froh, dass ich kein Stadtkind bin. Als ich ein kleiner Junge war, hatten wir hinter unserem Haus einen sehr großen, sehr langgestreckten Garten, der am Ende in die Felder und dann wiederum in den Wald überging. Die Felder und der Wald waren mein Zuhause. Schon mit fünf, sechs Jahren durchstreifte ich die „Grät“, wie das Waldstück genannt wurde. Geheimnisvoll lag dort ein altes Autowrack, vor Jahren ausgebrannt, verrostet und überwuchert. Tief im Wald gab es halb verfallene Baracken aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und schiefe, moosbewachsene Hochsitze.
Als selbsternannter König der Barackensiedlung war ich voller Abenteuerlust. Im Ohr hatte ich die Geräusche und in der Nase die Düfte des Waldes. Fast 50 Jahre später würde ich noch immer den Weg nach Hause finden. Als ich, auch König des Waldes, wieder einmal auf dem Heimweg war, blieb ich stehen. Ein Rascheln, ein Knacken. Stille. Sechs, sieben Meter von mir entfernt stand ein Reh und schaute mich mit braunen Augen an. Ich stand wie angewurzelt, schaute zurück, und das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich trat auf einen Zweig, es knackte und das Reh war im Nu verschwunden.
Ein paar Tage später kam Opa Thede zu Besuch, er war Jäger und ein Freund der Familie. In seiner grünen Jagdkleidung und mit seinen roten Haaren saß er dann bei uns im Wohnzimmer, trank mit meinem Vater Cognac und brachte uns Wildfleisch vorbei, vom Reh. Irgendwie störte mich das nicht, denn für mich als Dorfkind war das ein normaler Kreislauf: der Wald, das Wild und Opa Thede. Und deshalb gibt es heute Rehschulter mit herbstlichem Röstgemüse.
(für vier Personen)
Für das Reh
1 Rehschulter von 1,2 kg
0,2 Liter Portwein
200 ml Wildfond
Ein Sträußchen Thymian, Lorbeer und Rosmarin
4 Wachholderbeeren
Salz
schwarzer Pfeffer aus der Mühle
Für die Sauce
2 Schalotten, feingehackt
100 ml roter Portwein (Tawny)
200 ml Wildfond
600 ml Rotwein (Cotes du Rhone)
6 EL Balsamico
1 Prise Quatre Epices
1/2 TL Lebkuchengewürz (Alfons Schuhbeck)
2 Wachholderbeeren
20 schwarze Johannisbeeren
1 Lorbeerblatt
Salz
Schwarzer Peffer
Zucker
scharfes Paprikapulver
1/2 TL Demi Glace (konzentrierter Kalbsfond, geliert)
1-2 Stück Zartbitter-Schokolade
1 Espressotasse Sahne
Für das Röstgemüse
1 kleiner Hokaido-Kürbis, entkernt und in 2cm breite Spalten geschnitten
2 Pastinaken, geschält und in in 1,5 cm dicke Scheiben geschnitten
6 Karotten, geschält und in 1,5 cm dicke Scheiben geschnitten
6 Schalotten, geschält und große Exemplare quer halbiert
4 Zehen Knoblauch, geschält
1 TL Raz al Hanut (Gewürzmischung)
1 TL Harissapulver (Alfons Schuhbeck)
8 EL Olivenöl
Salz
Schwarzer Pfeffer
Zuerst kommt das Gemüse dran. Die Kürbisspalten, Pastinaken- und Karottenscheiben, Schalotten und den Knoblauch in einem offenen Bräter platzieren, mit Salz, Pfeffer, Raz Al Hanut und Harissa würzen und mit dem Olivenöl großzügig begießen. Der Bräter kommt jetzt für eine halbe Stunde in den auf 220 Grad vorgeheizten Backofen, danach wird er beiseite gestellt, mit Folie abgedeckt und kurz vor dem Servieren noch mal im Ofen hochgezogen. Und keine Sorge wegen der orientalischen Gewürze. Auf wundersame Weise unterstreichen sie nur das würzige Röstgemüse (wenn man die Dosierung nicht übertreibt) und hinterlassen beim Gemüse keineswegs dominante Spuren.
Jetzt wird die Rehschulter gesalzen, gepfeffert, mit grob gemörsertem Wachholder eingerieben und anschließend von beiden Seiten angebraten. Mit Rotwein, Port und Wildfond begießen, das Kräutersträußchen dazugeben und bei 160 Grad für anderthalb Stunden in den Backofen schieben. Ist die Flüssigkeit im Ofen verdunstet, sollte etwas Rotwein nachgegossen werden, damit die Schulter nicht im Trockenen liegt.
Das Sößchen ist der Schlussstein für diesen herbstlichen Teller. Und was für einer. Ich bin froh, dass ich meinen Freund Matthias (ein echtes Berliner Stadtkind) mit am Herd hatte. Wenn wir zusammen loslegen, werden wir irgendwann sehr mutig und oft entsteht dabei etwas Neues. So wie hier. Die Schalottenwürfel in Pflanzenöl 5 Minuten anschwitzen und mit Portwein ablöschen, den wir fast vollständig einkochen lassen. Jetzt gießen wir den Wildfond dazu und auch 0,3 Liter Rotwein und lassen diese Mischung wieder stark einkochen, jetzt ist auch unser Lorbeerblatt mit von der Partie. Und wieder Rotwein und den Balsamico dazugeben – und erneut einkochen.
Jetzt sollte die Flasche Cotes du Rhone fast alle sein. Und wir lassen alles weiter köcheln und würzen uns beherzt durch die Zutatenliste: Quatre Epices, Lebkuchengewürz, scharfes Paprikapulver, Salz, Zucker, Pfeffer und ein halbes Löffelchen Demi Glace. Ja, das klingt ein bisschen verwegen. Aber habt Vertrauen, es wird wunderbar. Und ja, normalerweise nehme ich nie so viele Komponenten, aber manchmal muss es eben sein, so wie hier, wenn ich mich immer tiefer in den Wald hineinschmecke, aus dem unser Reh gekommen ist. So. Jetzt nur noch ein bisschen dunkle Schokolade in der Sauce auflösen, die zusammen mit einem Schuss Sahne die Schärfe der Gewürze und die Säure von Essig und Rotwein wundervoll einhüllt und geschmacklich abpuffert. Zuletzt dieses Sößchen nur noch binden, die schwarzen Johannisbeeren hinzugeben, die Hitze abschalten und Deckel drauf. Kurz vor dem Servieren wieder erwärmen.
Nach der Garzeit die Schulter aus dem Ofen ziehen und dafür das Röstgemüse wieder fünf Minuten hineinschieben. Mit einem Filetiermesser das Fleisch von den Schulterknochen lösen und mit dem Gemüse und dieser sehr aufregenden Sauce rasch servieren. Bei uns gab es dazu einen 2016er Gigondas von der Domaine de la Bouissière. À bientôt!
p.s.: Als kleiner Junge kannte ich keine Stadtkinder. Aber ich stellte sie mir immer so vor wie die Jungs und Mädels im Vorspann der Kindersendung „Rappelkiste“. Die älteren Leserinnen und Leser werden sich erinnern. https://m.youtube.com/watch?v=Ksc7vGCHjOc
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