Eine kleine Weihnachtsgeschichte
Weihnachten. Dazu gehört auch für mich Familie, Kerzenlicht, gutes Essen, guter Wein. Und solange ich mich zurückerinnern kann: ein geheimnisvoller grüner Kräuterlikör, dem die Familie seit jeher magische Kräfte zuspricht, weil er uns seit Jahrzehnten zuverlässig von dem an den Weihnachtstagen bisweilen auftretenden Völlegefühl befreit. Ob diese Wirkung des „Chartreuse“ von den 55 Volumenprozent Alkohol herrührt oder von den enthaltenen Kräutern und Gewürzen, entscheidet jeder für sich.
Der smaragdgrüne Stoff hat aber alles, woraus kulinarische Legenden sind: Das Rezept soll vom einem Alchimisten aus dem 16. Jahrhundert stammen. Melisse, Minze, Macis, Zimt, Thymian, Arnica, Ysop, Wermut und 120 andere Kräuter und Gewürze bilden das Geheimrezept, das seit 1605 immer nur drei Karthäuser-Mönche gleichzeitig kennen. Unser Geheimrezept: Bei uns zuhause ist die Bescherung immer nach dem Essen. Und dazu gibt es einen Chartreuse. Sonst ist es irgendwie nicht Weihnachten.
Ein, zwei Wochen vor Weihnachten wurde ich unruhig. Dieses Jahr findet Weihnachten nämlich wieder im Saarland statt und ich wusste nicht, ob meine Mutter noch Chartreuse im Schrank hat. Hatte sie nicht, wie sie auf Nachfrage etwas zerknirscht einräumte. Im Internet war er nicht zu finden oder nur mit Lieferzeiten bis Mitte Januar. Lieferketten-Probleme wegen Corona? Oder größerer Durst wegen Corona?Im einschlägigen Fachhandel im heimischen Saarland wurde es nicht besser. „Chartreuse haben wir schon seit Wochen nicht mehr reinbekommen“, erklärte mir ein Wein- und Sprituosenverkäufer achselzuckend. Inzwischen schrieben wir den 22.12. und ich wurde leicht panisch. Ich berichtete meinem Freund Günter vom unserem Chartreuse-Problem und bat ihn um Rat. Günter ist ein alter und erfahrener Genießer – und ein sehr guter Freund. Er wolle mal sehen, was er tun könne, sagte er. Gestern, am 24.12. um 12.27 Uhr blinkte der Bildschirm meines Handys plötzlich auf. Zu sehen war: Eine kleine Pulle Chartreuse! Bis ins lothringische Creutzwald hatte es Günter verschlagen, um den magischen, grünen Stoff zu finden. Er erstand die letzte verfügbare Bouteille. Eine viertel Stunde später stand er vor der Tür. „Ich wollte nur sicherstellen, dass Du ein schönes Weihnachtsfest hast“, sagte er fröhlich augenzwinkernd und streckte mir das rare Fläschlein entgegen.
Als wir also gestern das zarte Perlhuhn mit Trüffelcrème hinter uns hatten und um den Kamin saßen, als das Feuer leise knisterte, das Geschenkpapier beim Auspacken raschelte, war auch das vertraute Klirren der Eiswürfel in den Gläsern mit dem Chartreuse zu hören. Weihnachten! Jauchzet, frohlocket!
Euch allen wünsche ich frohe Weihnachten, ruhige Festtage und einen guten Rutsch in 2022. Und was auch nicht schaden kann, sind gute Freunde, auf die man sich in kleinen und größeren Notfällen verlassen kann. À bientôt!