Römische Ferkeleien
Da staunte der betagte Literaturprofessor Enoch von Ascoli nicht schlecht, als er sich an einem ungemütlichen Herbstabend des Jahres 1455 in der Bibliothek des Benediktinerklosters Fulda im Schein seiner Öllampe über einen Berg alter Manuskripte beugte. Im Auftrag des Papstes war er unterwegs, um überall in europäischen Klöstern vergessene und verschollene antike Schriften aufzuspüren, die fleißige Mönche dort seit Jahrhunderten abgeschrieben hatten, um zu retten, was von dem Wissen der Antike nach dem Ende des Römerreiches und den Wirren der Völkerwanderung noch zu retten war.
Was hatte der päpstliche Scout nicht alles schon hinter dicken Klostermauern entdecken und seinem Auftraggeber nach Rom liefern können! Tacitus, Cicero und vieles mehr, womit Lateinschüler bis heute traktiert werden, stand auf der Shopping-Liste des Manuskriptjägers Enoch, den ich mir ein wenig wie den mönchischen Sean Connery im “Namen der Rose” vorstelle. Jetzt begann er in einem dicken Folianten zu blättern, vor und zurück. Er musste aufpassen, denn das gute Stück war zu diesem Zeitpunkt schon immerhin 500 Jahre alt. Doch nicht von großen Schlachten und Eroberungen, nicht von Caesarenmord und den alten Göttern war hier die Rede. Es ging stattdessen – in sauberstem Hochlatein – um Seeigel, Gewürznelken und Fischsauce! Je länger er las, erkannte er, dass er hier ein antikes Kochbuch vor sich hatte. Und nicht irgendeines! Er hatte nichts weniger als das kulinarische Werk von Marcus Gavius Apicius wiederentdeckt, und der war einst so etwas wie eine weltbekannte Mischung aus Paul Bocuse und Wolfram Siebeck der römischen Kaiserzeit.
Auf einmal war alles wieder da, was man bis dahin nur noch aus mündlicher Überlieferung und von Sprichworten kannte: die römische Küche mit ihrer ganzen Opulenz und Dekadenz, ihren Verrücktheiten – und ihren bisweilen auch nach heutigen Maßstäben hochmodernen Ideen. “De re coquinaria” versammelt natürlich Skurrilitäten wie gebratene Pfauenzungen und Kuheuter oder nach unserem Geschmack völlig überwürzte Fisch- und Muschelgerichte. Hier findet sich aber auch eine aufregende, hoch entwickelte Fusion-Küche mit Einflüssen aus dem gesamten Mittelmeerraum, dem nahen Osten und dem nördlichen Afrika, wie wir sie aufgrund der weltweiten Verfügbarkeit von Produkten, Gewürzen und Ideen erst in unseren Tagen wieder erleben. Und man stößt auf Kombinationen, die sich bis heute in verschiedensten Küchen Europas gehalten haben. Pistazien in der Mortadella? Schwein mit Äpfeln und Honig? Würzige Porchetta oder knuspriges Spanferkel? Alles schon mal dagewesen!
Ich könnte wetten, dass der alte Enoch an diesem Abend seinen kaum gewürzten Getreidebrei im Refektorium des Klosters vielleicht zum ersten Mal irgendwie unspannend fand … Wir haben es da besser, wir können Apicius’ Ideen nämlich nachkochen. Natürlich muss man Apicius nicht nur übersetzen, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes in unsere Zeit übertragen, wenn man wie die Römer kochen will. Wir garen zum Beispiel nur selten über offenem Feuer, auch so manches ausgestorbene Kräutlein muss behutsam durch andere Gewürze ersetzt werden, und halbe Schweine und Hirsche werden in unseren Küchen auch eher selten verarbeitet. Aber worauf es ankommt, das lässt sich schon ganz gut herausdestillieren aus den brüchigen Seiten des Fuldaer Dokumentes. Deshalb zu Ehren von Marcus Gavius und Enoch heute Spanferkelbäckchen mit Koriander wie im alten Rom, oder “Porcellum coriandratum”, wie man es damals nannte. Um es noch authentischer zu erleben, können Sie beim Essen gern auf Ihrem Sofa eine seitlich liegende Position einnehmen. Aber bitte nicht gleich mit Speiseresten um sich werfen. Der Boden ist schließlich empfindliches Parkett und kein pflegeleichtes Mosaik!
(Für 2 Personen)
400g Spanferkelbäckchen
3 Stengel Koriander, feingehackt
3 Stengel Dill, feingehackt
3 Stengel Oregano, feingehackt
1 guter EL Koriandersamen, fein gemörsert
1 mittelgroße Zwiebel, feingehackt
1 Zehe Knoblauch, feingehackt
4 EL Pinienkerne, angeröstet, dreiviertel davon dann im Mörser zu einem Mehl zerstampft
2 EL Rosinen
3-4 EL Chinesische Austernsauce (Sie ersetzt hier das sogenannte “Garum”, eine Würzsauce auf Fischbasis, die die Römer fast für alle Rezepte als Würze einsetzten, so wie es manche unserer Zeitgenossen gern mit Sojasauce oder Maggi tun)
0,4 cl Weißwein, am liebsten Elbling von der Mosel, den die Römer dort als erste anpflanzten
3 EL flüssiger Honig
1/2 EL Weißweinessig
Salz, besser fleur de sel (auch wenn letzteres gerade unverschämt teuer geworden ist)
Pfeffer aus der Mühle
Da ich noch nie römisch gekocht habe, sind diesmal alle Zutaten fix und fertig vorbereitet und stehen in kleinen Schüsselchen und Gläschen neben dem Herd bereit. So kann ich mich ganz auf das Rezept konzentrieren. Zuerst werden die Bäckchen gewaschen, gut trockengetupft, gesalzen, gepfeffert und mit dem Korianderpulver bestreut. Dann in einer großen Pfanne in neutralem Pflanzenöl rundum knusprig anbraten. Danach aus der Pfanne heben und in einen kleinen Topf geben. Da gieße ich 0,2 l Elbling an und der Topf wandert mit Deckel für eine gute Stunde in den auf 150 Grad vorgeheizten Backofen. Danach die Bäckchen herausheben und warmstellen. Sie sind jetzt butterzart. Die Kochflüssigkeit abgießen und bereithalten.
Und jetzt kommt die Sauce! Dafür werden zunächst in der gleichen Pfanne die Zwiebelwürfelchen auf mittlerer Temperatur 5 Minuten angeschwitzt, bis sie anfangen, glasig zu werden, dann kommt der Knoblauch hinzu. Nach weiteren 2 Minuten gebe ich jetzt die feingehackten Kräuter zur Zwiebel-Knoblauchmisching. Nun den restlichen Wein, die Kochflüssigkeit der Bäckchen, die Rosinen und einen Teil des Pinienkernmehls hinzugeben. Letzteres bringt einen subtil-nussigen Geschmack hinein, dient aber auch der Saucenbindung. Den Trick merke ich mir!
Jetzt wird’s spannend. Ich habe keine Ahnung, wie dieser Teller vor 2000 Jahren bei einem römischen Gelage geschmeckt hat. Aber ich versuche, mich langsam heranzutasten. Ich gebe Honig, Austernsauce, Essig und etwas Salz hinzu und probiere die Sauce, die unterdessen weiter einköchelt und in die ich zum Schluß immer mehr vom Pinienkernmehl einrühre und bei Bedarf etwas Wein nachgieße. Nun kommt es darauf an, genau so abzuschmecken, dass dieses Sößchen die richtige Balance bekommt. Vielleicht noch ein Spritzer Essig oder etwas mehr Austernsauce? Deshalb sind die obigen Mengenangaben auch nicht in Marmor gemeißelt, sondern unterliegen dem guten Geschmack des Kochs. Stimmt die Balance, dann hat man eine unglaubliche Sauce vor sich: Süße, Säure, Kräuter und Gewürze spannen einen ganz breiten aromatischen Bogen, wie man ihn noch nie auf der Zunge hatte und man kommt sich wie jemand vor, der soeben aus uralter DNA etwas Uraltes zum Leben erweckt hat. Was man hier schmeckt und schnuppert, das ist weder asiatisch noch arabisch, auch nicht sizilianisch oder italienisch, sondern etwas ganz und gar Eigenständiges. Probiert es selber, Ihr werdet Euch wundern!
Es wird serviert. Dazu gibt winzige Gnocchi, die wie Kichererbsen aussehen und die deshalb chicche di patate genannt werden. Den Römern waren sie sicher unbekannt, aber ein bissl Innovation darf jetzt sein. Zum Anrichten nur noch die übrigen, unzermahlenen Pinienkerne darüberstreuen. Die Erfolgsmessung ist eindeutig: Frau Knauber leckt am Ende den Saucenlöffel ab und hat diese kleine römische Ferkelei für das nächste Wochenende gleich wieder bei mir vorbestellt. Cum laude, würde der Lateiner sagen. À bientôt!
p.s. Im Originalrezept ist das Filet vom Spanferkel vorgesehen. Ich habe mir die Freiheit genommen, stattdessen die Bäckchen zu verwenden. Hätte Marcus Gavius sicher interessant gefunden. Dazu würde ich einen Wein aus Kampanien trinken, dort wuchsen die Lieblingstropfen der Imperatoren, Senatoren und Gladiatoren. Zum Beispiel einen Falerno di Massico. Aber auch ein in Deutschland gewachsener, fruchtiger Merlot, zum Beispiel vom vielfach prämierten Weingut Petgen-Dahm an der Obermosel, würde schön dazu passen. Weißwein kommt übrigens gegen diese Sauce nicht an, lasst es sein. Wer jetzt neugierig auf die kulinarische Antike geworden ist: Es gibt zahlreiche Bücher, in denen die Apicius-Küche für unsere Zeit adaptiert wurde. Hier zwei zur Auswahl:
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