Blutwurst für Blutsbrüder
Als der Schneeball von Jens mich trifft, verliere ich das Gleichgewicht. Matthias konnte sich rechtzeitig ducken und startet mit bedrohlichem Geschrei einen verwegenen Gegenangriff auf seinen Bruder. Ich liege im Schnee und über mir wölbt sich ein selten blauer Himmel. Wir sind irgendwo im Dezember 1976. Ich bin acht.
42 Jahre später. Herrenabend mit Jens und Matthias, die mich als “dritten Bruder” schon vor Jahrzehnten adoptiert haben. In der Markthalle am Kreuzberger Marheineckeplatz sitzen wir beim Italiener am Fenster. Matzi hat einen fruchtigen und trotzdem angenehm ernsten Rosé geholt. Jetzt geht es weiter, unser seit 42 Jahren ununterbrochenes Gespräch. Witzchen fliegen hin und her, die Themen sind nicht hochtrabend. Aber ein Schweigen, ein Signalwort, ein Räuspern, eine Bewegung der Augenbrauen sind wie eine zusätzliche Sprache, die nur wir untereinander verstehen. Jetzt geht’s ums Essen. Zuhause bei Matthias warten im Backofen Kartoffeln und Paprika. Nachdem der Rosé leer ist, besorgen wir an den Marktständen den Rest: Salami und Schinken beim Italiener, Wein und Käse beim Franzosen. Beim Metzger finden wir Berlins beste Blutwurst von Marcus Benser aus Neukölln. Sie ist so gut, dass sie in den besten Restaurants der Stadt auf den Speisekarten steht. Wer mehr darüber erfahren will: www.blutwurstritter.de
Spontan beschließen wir, Boudin zu machen, einen französischen Klassiker, der in unserer gemeinsamen Kindheit im Saarland ab und zu von meiner Mutter auf den Tisch gezaubert wurde. Dann laufen wir fröhlich mit unserem gehaltvollen Gepäck durch die Kälte zu Matzis Wohnung. Vierter Stock. Endlich oben angekommen wird gedeckt, weiter geredet, gelacht und gegessen. Dann geht’s an die Blutwurst. Und zwar so:
500 Gramm schnittfeste Blutwurst, idealerweise von Marcus Benser, enthäutet und in 1cm dicke Scheiben geschnitten
6 Schalotten, in Ringe geschnitten
4 kleine Äpfel, geachtelt
2 Esslöffel Zuckerrübensirup
Piment d‘Espelette oder eine Spur Cayennepfeffer
Die Zwiebeln werden in Pflanzenöl oder Butterschmalz angedünstet, nach 5 Minuten geben wir die Apfelspalten dazu, den Zuckerrübensirup über allem verteilen. Nach weiteren 5 Minuten werden Zwiebeln und Äpfel in einer Schale zwischengelagert. Nun die Blutwurst in der Pfanne scharf anbraten und die Zwiebeln mit den Apfelspalten wieder dazugeben. Salzen, mit dem Piment würzen, wenden. Wenn die Wurstscheiben jetzt teilweise zerfallen, ist das Ergebnis nicht mehr sehr schön aber ungebremst lecker. Am Pfannenboden setzt ein wenig angeröstete Wurstmasse an, die wir loskratzen, damit sie noch zusätzlichen Schmackes in unsere Boudin bringt. Wir stehen eng beisammen um die Pfanne herum, schnuppern, schauen. Männer, die auf Blutwurst starren.
Es ist so köstlich: Die würzige Blutwurst und die süßlich-pikante Zwiebel-Apfelmischung sind eine großartige Kombination, genau das Richtige – für Blutsbrüder wie uns. Dazu trinken wir einen kühlen, weißen Cotes du Rhone. Ja, Riesling wäre auch möglich gewesen. Aber wir würden nicht tauschen. Als er sich nachnimmt, offenbart Jens, dass er eigentlich keine Blutwurst mag. „Eigentlich“ heisst, dass er den Teller blitzsauber leert und selig lächelnd im Stuhl zurücksinkt.
Als Matzi später den Kaffee serviert, stellt er eine Flasche Quetschenbrand aus dem Badischen dazu. Dann erzählt er, dass er letztens beim Entrümpeln einer Wohnung auf ein paar Flaschen mit bulgarischer Aufschrift und einer undefinierbaren Flüssigkeit, mutmaßlich schwarz gebranntem Slibowitz, gestoßen ist, bestimmt 30 Jahre alt. Er hat sie nun bei sich im Keller. Unser Schweigen ist ein freundlicher, aber eindeutiger Imperativ. Er steigt also die fünf Etagen in den Keller runter – und kommt mit leeren Händen, von der Treppe keuchend, zurück. Zu voll, zu chaotisch ist es dort unten. Aber beim nächsten mal ganz bestimmt!
Irgendwann geht auch der schönste Herrenabend zuende. Wie immer sind wir uns einig, dass wir das viel öfter tun sollten. Wir wissen, wir können uns alles und müssen uns nichts erzählen. Und wir freuen uns auf das nächste Mal, auf das Lachen, auf die alten und neuen Geschichten. Und auf den Slibowitz. À bientôt!
p.s.: Die Geschichte der Blutwurst reicht übrigens mindestens bis in die Antike zurück. In Homers „Odyssee“ heißt es im 18. Gesang, Zeile 44 bis 47 wörtlich: „Hier sind Ziegenmagen, mit Fett und Blut gefüllt/Die wir zum Abendschmaus auf glühende Kohlen gelegt/Wer nun am tapfersten kämpft, und seinen Gegner besiegt/Dieser wähle sich selbst die beste der bratenden Würste.“ Nun, gekämpft haben wir diesmal nicht darum. Aber vielleicht liegt ja bald wieder Schnee …
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