Träum bitte weiter, Régis!
Zehn, fünfzehn Jahre zurück. Wer in Berlin gut französisch essen will, hat damals nicht viel Auswahl. Aber er hat das „Cochon“! Ich sitze also in der Fichtestraße in Kreuzberg an der Bar dieses schönen Restaurants und schnuppere an einem Glas Saint Véran. Ein junger, hagerer Kellner stellt mir die Austern hin. Wir fangen ein Gespräch an, springen immer zwischen Deutsch und Französisch hin und her und ganz schnell ist er bei seinem großen Traum. Eines Tages will er selber ein Bistro in Berlin haben. Ein bisschen classique, ein bisschen Innovation, urban, fröhlich und lebendig soll es sein. Sein Traum, und ich habe ihm gerne zugehört. An manchen Abenden kam zu späterer Stunde gelegentlich ein Pianist ins „Cochon“, setzte sich bei Kerzenlicht ans Klavier und erfüllte das kleine Restaurant mit wundervollen Klängen und einem Hauch von Bohème. Das war dann der Moment, in dem Régis, so hieß der junge Mann hinter der Theke, zu einer geheimnisvoll aussehenden Cognacflasche griff, mir ein wenig davon einschenkte und mit leichtem französischem Accent verschwörerisch murmelte: „Müssen Sie probieren, Monsieur!“. Und wenn ich dann genussvoll die Augen verdrehte, lachte Régis. Das ist lange her, das „Cochon“ wurde irgendwann geschlossen und Régis hatte ich aus den Augen verloren.
Inzwischen hat sich viel geändert in Berlin. Neben allerlei Food-Esoterik gibt es seit zwei, drei Jahren auch einen starken Frankreich-Trend: Nicht erst seit Macron zieht es die Hauptstädter in immer mehr spannende, von jungen Leuten mit viel Engagement betriebene französische Läden, von der Weinbar bis hin zum klassischen Restaurant. Letzten Sommer saß ich in der Nähe des Stuttgarter Platzes vor einer kleinen Brasserie, in die mich Helmar gelockt hatte. Helmar kann nämlich sehr enthusiastisch sein, wenn es um neue, trendige Lokale geht und hat da einen guten Riecher: „Ein Franzose – da musst Du gewesen sein!“. Ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich war etwas zu früh dort und als ich am Ricard nippte, stand plötzlich Régis in der Eingangstür, zeigte auf mich und rief: „Da sind Sie ja endlich wieder!“. Seinen großen Traum hat er im „Lamazère“ verwirklicht. Heute wie damals ist er ein begnadeter Gastgeber. Muss wohl im Blut liegen, denn seine Eltern betrieben früher ein Sternerestaurant in Paris.
Das „Lamazère“ ist ein kleines Schmuckstück, das Publikum genießt völlig entspannt und die fröhliche Atmosphäre spürt man ab der ersten Minute. Die Karte ist kompakt, die Gerichte bezahlbar und es ist großartig und fast ein bisschen mysteriös, was das nur zweiköpfige Team in der kleinen Küche leistet. Kompromisslos französisch die Richtung, auch mal gut gemachte vegetarische Teller dazwischen und eine gnadenlose Produktqualität am Start. Das zieht sich durch, vom knusprigen Baguette, der zarten Butter, Fleur de sel und Piment d’Espelette beim Aperitif bis zum Kaffee und edlen elsässischen Obstbränden am Ende. Dazwischen liegt ein kleiner Kontinent von Aromen: Unter den Signaturgerichten finden sich oefs en cocotte, also gestockte Eier aus dem Ofen, die mit allerlei wechselnden Zutaten kombiniert werden und immer auch ein köstliches Schmorstück von Lamm oder Iberico-Schwein. Oder mal Jakobsmuscheln in Bouillabaisse-Sud wie an der Côte d’Azur? Vielleicht auch ein ganzes Perlhuhn zu zweit, mit einem Cassoulet, in dem kleine Würfelchen vom Kalbskopf für überraschende Geschmacksexplosionen sorgen? Erstmals seit ich ihre Bekanntschaft machen durfte, hatte Frau Knauber übrigens bei diesem Perlhuhn keinen Anlass, die ansonsten fast unvermeidliche Trockenheit der Geflügelbrust zu monieren. Habe ich mir im Kalender angekreuzt. Und wer dann beim sensationellen Milchreis mit Salzbutterkaramell noch nicht restlos begeistert ist, dem ist nicht mehr zu helfen.
Im Lamazère zeigt sich das berlinische Fronkreisch von seiner besten Seite! Das gilt übrigens auch für die Weinkarte. Quer durch die relevanten Anbaugebiete (Burgund und Elsaß geben den Ton an) findet sich eine feine Mischung aus großen Namen und interessanten Newcomern – dabei sehr fair kalkuliert. Hier stimmt so ziemlich alles, und wer Gastronomie ein wenig kennt, der weiß, wieviel Arbeit das bedeutet. Man kann dem französischen Dichter Eugène Ionescu nur zustimmen: „Träumen heißt, eine Welt zu erschaffen.“ Träum bitte weiter, Régis!
p.s. Beim Schreiben so reingesteigert, dass ich dort gleich mal einen Tisch reserviert habe. À bientôt!