Ich weiß nicht mehr, wer eigentlich auf die Idee kam. Aber eines Nachts um 4 Uhr saßen wir plötzlich in einem alten R4 von Boris‘ Vater und fuhren nach Paris. Einfach so, zum Frühstücken. Es war Frühling 1988.
Für uns Saarländer war dieser Sehnsuchtsort mit dem Auto in knapp vier Stunden erreichbar. Wenn man nur eine einzige Musik-Cassette dabei hat, kann einem nach dem achten Mal sogar der „Magic Bus“ von the Who auf die Nerven gehen, aber uns war das total egal. Wir wollten nur ankommen. Zum ersten Mal Paris, vor über 30 Jahren! Und dann diese Stadt! Eine Schönheit, voller Leben, voller Inspiration. Wie ein Chanson von Gilbert Bécaud. Dass es dort etwas teurer war als in der Saarlouiser Altstadt, das wurde uns nach dem ersten Café au Lait an den Champs Élysées schnell klar. Egal. Wir wollten kein Menü und kein Moulin Rouge, wir wollten nur diese tolle Stadt erleben. Zogen durch die Parks, zum Eiffelturm, über die Boulevards und Brücken – und zur Kathedrale Notre Dame.
Ich bin immer wieder zurückgekommen. Mit Freunden, mit Kollegen, zu zweit, alleine. Paris ist dadurch irgendwie Begleiterin in allen Lebensphasen geworden seit dieser ersten Tour im R4. Wie nah mir Paris immer noch ist, das wurde mir klar, als ich fassungslos die Bilder von der brennenden Notre Dame im Fernsehen sah. Paris ist die Hauptstadt aller, die das Leben lieben.
Fast bei jeder Reise nach Paris steht ein Besuch im „Au Petit Riche“ auf dem Programm, mein Stamm-Bistro in der Seinestadt. Dahin nehme ich Euch jetzt mal mit. In der Nähe der Opéra Garnier gelegen, ist es vielleicht nicht das beste Bistro von ganz Paris. Die Küche ist nicht übermäßig innovativ, die Kellner sind auch nicht ausgesprochen hip. Das ist aber auch gut so. Es ist jedoch ganz sicher eines der schönsten Bistros. 1854 wurde der Laden eröffnet und seitdem nur um 1880 noch einmal behutsam verändert. Es war somit schon lange da, bevor das Wort „Bistro“ Ende des 19. Jahrhunderts im Wörterbuch auftauchte. Wir sitzen hier mitten in der Belle Epoque auf roten Samtbezügen, über uns Hutablagen aus blinkendem Messing, abgewetzte Zeitungshalter hängen daran und wir haben manchmal sogar uraltes, gehämmertes Silberbesteck neben dem Teller liegen.
Die Meeresfrüchte hier liebe ich. Noch nie hatte ich optisch so schöne Schnecken, Austern und zartrosa Crevetten gesehen wie an jenem Tag vor etwa 15 Jahren, als ich dort mittags mit meinem Freund Holger aß. Solche Qualitäten scheint es nur im französischen Handel zu geben. Und nie davor und danach fand ich tatsächlich eine Perle in einer Auster! Sie ist etwa so groß wie ein TicTac und ich habe sie heute noch.
Wer im „Petit Riche“ zu Tisch geht, wird exzellentes, klassisches Bistro-Essen auf dem Teller haben. Der verbindliche Kanon der französischen Bistroküche ist im 19. Jahrhundert entstanden und blieb durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch bis heute stabil. Ich liebe dieses auf angenehmste Weise stockkonservative Element im Nationalcharakter unserer Nachbarn, denn so bleiben die Klassiker auf höchstem Niveau erhalten: Tatar vom Rind mit Pommes Frites, Hechtklößchen, Kalbsnierchen und wie die kleinen Wunder aus der Küche alle heißen. Über die Zubereitung und die exakten Bestandteile dieser Gerichte gibt es keine Diskussionen, denn es besteht eine präzise kollektive Vorstellung darüber unter den Franzosen: „Comme il fault“ – wie es sein muss, das ist die hinreichende Beschreibung, die dort jeder sofort versteht und mit einer plastischen Vorstellung verbindet.
Die Preise sind gute Mittelklasse, man sollte also einen Schein mehr einstecken. Den braucht man auch. Denn dieses herrliche Restaurant hat eine hoch interessante Weinkarte: Fast nirgendwo in Paris wird man mehr oder bessere Weine aus dem Tal der Loire finden, die abseits von Sancerre und Pouilly Fumé bei uns in Deutschland ja nur wenig bekannt sind. Ich denke da an den ausdrucksvollen Ménétou Salon, den markanten, kühl zu trinkenden roten Chinon, den köstlichen Vouvray oder die eleganten Weine aus Bourgueil. Entlang der 1000 Kilometer langen Loire finden sich auch viele Rebsorten, die nur hier angebaut werden, teilweise seit dem Vordringen Cäsars nach Gallien. Die Weine des Hauses, ein Bestand von 5000 Flaschen, lagern übrigens in einem tiefen Keller an der Loire, von wo sie herangeholt werden, wenn Nachschub gebraucht wird.
Wer zum Mittagessen herkommt, meine Lieblingszeit im „Petit Riche“, der steht so bald nicht mehr vom Tisch auf. Die Sonne flutet durch die Fenster herein, der nächste Wein wartet schon im Eiskübel, der Käsewagen ist noch lange nicht in Sicht und das Auge wandert über die Bodenmosaike, die goldgerahmten Spiegelwände, überdimensionierte Grünpflanzen, das Silberbesteck und die blitzenden Gläser. Ja doch, da draußen ist die vermutlich schönste Stadt der Welt. Aber hier drin ist es soooo schön! Wenn man dann doch irgendwann wieder auf die Straße zurück muss, dann ist das wie eine kleine Vertreibung aus dem Paradies. Aber wir wissen ja zum Glück ganz genau, wo dieses Paradies sich befindet. À bientôt!
p.s.: Wenn jemand demnächst aus dem Fenster unserer Kreuzberger Wohnung sehr laut Gilbert Bécaud hören sollte, dann kann er sich sicher sein, dass ich gerade von großem Heimweh geplagt bin. Ich muss wieder hin. Bald. In den R4 quetschen sich aber heute nur noch Nostalgiker. Von vielen Städten aus gibt es inzwischen bezahlbare Direktflüge, und die Saarländer, Pfälzer und Baden-Württemberger können mit dem rasanten TGV in unter 2 Stunden nach Paris düsen. Die Gourmets und Gourmands aus dem Südwesten fahren deshalb gern zum Mittagessen mal eben rüber und sind dann abends wieder zuhause. Die Glücklichen. Zum „Au Petit Riche“ kommt Ihr hier: https://www.restaurant-aupetitriche.com/ Wer dort isst, sollte den Tisch in einem der unteren Räume reservieren, die oberen sind nicht halb so schön. Und wer mehr über die schönsten Bistros erfahren möchte, dem sei der Klassiker von Wolfram Siebeck “Die schönsten und besten Bistros von Paris” (ISBN 3453028422) von 1988 empfohlen. Dieses Werk (zwei Bände) gibt es nur noch antiquarisch und viele Betreiber der dort beschriebenen Läden dürften inzwischen gewechselt haben, die meisten dieser wundervollen Orte existieren aber noch.
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