Nach mir die Ginflut!
Wir haben sie alle schon einmal gesehen: bärtige, tätowierte Männer um die dreißig, die in den besseren Lebensmittelabteilungen Flaschen mit phantasievollen, verschnörkelten Etiketten vor sich aufgebaut haben und uns vormittags um halb elf zu einem Spirituosen-Tasting einladen. Manche haben einen Dutt, alle haben eine Überzeugung: „Unsere Manufaktur macht den besten Gin!“ Kein Getränk seit selbst gebrautem Bier hat in den letzten Jahren eine solche Retro-Karriere hingelegt. Und doch: Ich wollte nie richtig ran. Was vor allem an meinen bisherigen Erfahrungen mit diesem Getränk liegen mag. Der Abi-Ball ˋ88 und Brummschädel mit Gordon‘s oder Gin and Tonic-Beefeater-Abende am Strand von La Gomera um die Jahrtausendwende bildeten bisher den Nord- und den Südpol meiner Gin-Landkarte. Und so blieb es dann für lange Zeit.
Erstmals vom Gin herausgefordert wurde ich vor etwa acht Jahren auf der Kanalinsel Jersey im Hotel „Somerville“. Nirgendwo auf der Welt sollte man nach meiner Lebenserfahrung in einer Hotelbar Wein trinken, und schon gar nicht im angelsächsischen Sprachraum. Charlie, der aus Madeira stammende nette Barman, mixte mir stattdessen einen wunderbaren Gin and Tonic mit „Hendricks“, der mit einem dünnen Streifchen Gurkenschale serviert wird. Am Klavier klimperte dazu bei gedämpftem Licht eine Pianistin um die 80 mit violetter Betonfrisur, die mit großem Charme singend Beachtliches aus dem Sinatra- und Dean Martin-Repertoire darbot. In einem etwas abgeschabten Sessel mit Cordbezug hob ich den Hendricks zum Mund – und war begeistert. Diese Frische und das zarte Gurken-Aroma! Ich habe dann, wieder zuhause, ab und an eine Flasche Hendricks besorgt. Aber entweder fehlt es im Gemüsefach an Gurken, es sind keine Eiswürfel im Haus oder du hast kein Tonic Water. Das ließ meinen echten Enthusiasmus bald schwinden. Der gute, alte Ricard ist als Aperitif schließlich auch lecker und da reicht notfalls ein einziger Eiswürfel als Zutat. Und schon hatte Frankreich mal wieder gegen England gewonnen.
In den letzten Jahren fand dann die Gin-Renaissance ohne mich statt. Es lockte mich einfach nicht, wie das bei mir angesichts zunehmender Penetranz aktueller Trends meistens der Fall ist. „Nach mir die Ginflut!“, war meine Devise. Damit kann man auch falsch liegen. Das merkte ich, als ich plötzlich letzte Woche mit Kollegen in der Manufaktur von Mampe in Berlin stand, einer seit 1851 in Berlin bekannten Traditionmarke, die nach Jahrzehnten in völliger Versenkung mit Gin & Co wieder auferstanden ist.
„My Gin“ heißt ein Erlebnispackage, mit dem man dort in einem Kreuzberger Industriegewölbe fast buchstäblich in die Welt des Gins eintauchen kann. Man probiert sich zunächst unter Anleitung durch die verschiedensten Sorten und Spielarten, um dann selber seinen eigenen Aperitiv zu aromatisieren. Basis ist ein Getreidebrand, der bereits eine zarte Wacholdernote mitbringt. Wer keinen Wacholder mag, für den ist hier Schluß, weil die kleinen würzigen Beeren so zwingend zum Gin gehören wie Hopfen und Malz ins Bier nach Reinheitsgebot. „My Gin“, also mein Gin, er sollte ganz zart nach Weihnachten schmecken. Und so zückte ich die Pipette, nahm mein Laborglas mit dem Basisbrand und ging zum riesigen Tisch voller kleiner Fläschchen mit aromatischen Destillaten und Mazeraten, um loszulegen:
30cl Basisbrand mit leichtem Wacholderaroma
3 ml Destillat von der Pomeranzenschale (Bitterorange)
2 ml Ingwerdestillat
1,5 ml Zimtmazerat (eine hochprozentige Flüssigkeit, in der Zimtstangen eingelegt waren)
2 ml Honigmazerat (wie auch immer sie das herstellen)
Und als Abrundung 3 ml Kardamomdestillat
Faszinierend, wie diese winzigen Mengen unserem Basisbrand eine völlig eigene Note geben. Was man dabei alles selber schmecken und schnuppern kann, die unendliche Möglichkeit der Kombinationen! Es ist fast wie Fischertechnik, nur mit Trinken halt – und es machte einen Riesenspaß. Die kleine Flasche ist bei Mampe schnell abgefüllt und verkorkt. Jetzt steht sie für einen weihnachtlichen Digestiv bereit, gekühlt und lecker. Vielleicht on the rocks, wenn kein Purist oder Hipster in der Nähe ist. Und wenn ich zu viel davon trinke, wachsen mir ganz bestimmt Vollbart und Dutt. Lieber nicht. À bientôt!
p.s.: Wer Ähnliches erleben möchte oder mehr über Mampe erfahren will, findet es hier: https://mampe.berlin